Warnung! Sie könnten
sich an beunruhigende Gefühle und Gedanken erinnern. Lesen Sie
diese Geschichte nur, wenn Sie einigermaßen psychisch stabil sind
und nicht, wenn Sie akut krank sind!
Einleitung
Zuerst verspürst du nur gewisse
körperliche Symptome, dann hast du plötzlich neue
Erkenntnisse über die Welt und deine Lebenssituation. Von einer
Minute auf die andere bist du Mittelpunkt einer geheimen Konspiration
der Weltmächte. Du wirst von Spezialagenten beider Seiten
verfolgt, überwacht und zu einem ungewissen Ziel geführt.
Natürlich stehst du auf der guten Seite und hast eine Mission.
Aber welche? Auf dich sind Satelliten angesetzt und eine
Gehirnabtastmaschine. Die gegnerische Seite will dich verrückt
machen. Alle Fernsehprogramme werden extra für dich gemacht. Du
willst Mut und Tapferkeit beweisen. Du isst nichts mehr und machst
Ausdauerstehen. Nach einer Narkose glaubst du, das Weltall hätte
sich in deinem Kopf umgestülpt und die Weiterexistenz des
Universums hinge von einer Instabilität in deinem Kopf ab. Du
glaubst, nicht mehr klar denken zu dürfen. Deshalb überwachen
die Wissenschaftler der Erde deinen Kopf! Du bist bereit, dich
zerstrahlen zu lassen, um die Erde zu retten. Schließlich ist der
Alptraum
vorbei. Dies ist die merkwürdige, aber wahre Geschichte des
Verlaufs einer schweren psychischen Erkrankung, wie ich sie erlebt habe.
Die ersten Symptome
Es war im einem Spätsommer des letzten Jahrhunderts - ich hatte gerade mein Studium
erfolgreich abgeschlossen und arbeitete als frischgebackener Absolvent
in einem Berliner Großbetrieb. Ich bezog ein Zimmer in einer
Wohnung eines heruntergekommenen Hinterhauses, welches dem Betrieb
gehörte, und richtete es wohnlich ein. Schon zu dieser Zeit bekam
ich so ein unangenehmes
Gefühl am Hals kurz oberhalb des Schlüsselbeines. Ich
führte das auf den Kreislauf zurück und dachte, ich
müsste eben mehr Sport treiben. Dabei waren das die Nachwirkungen
des Stresses der Diplomarbeitfertigstellung. Dass dies die ersten
Anzeichen einer kommenden Nervenerkrankung waren, daran hätte ich
nicht im Traum gedacht.
Als Absolvent im Betrieb war es gleich meine Aufgabe, für den
einen PC, den sie dort in der Abteilung zu stehen hatten, ein
umfangreiches Projekt zu entwerfen. Von einer planvollen Strategie
seitens der Chefs konnte allerdings keine Rede sein und so sah ich mich
ständig neuen haarsträubenden inhaltlichen und zeitlichen
Forderungen ausgesetzt, die ich nur halbwegs kompensieren konnte, indem
ich bis spät in die Nacht gearbeitet habe.
Im Frühjahr wurden neue Computer geliefert und die Chefs
beschlossen, innerhalb des Bereiches eine EDV-Abteilung aufzumachen, in
der ich auch arbeiten sollte. Ich wollte aber unbedingt in der alten
Abteilung bleiben, wegen der netten Kollegen. So stellte ich mich also
quer und hatte
schließlich einige sehr unangenehme Personalgespräche
durchzustehen, wobei mich ein höherer Chef stark unter Druck
setzte, teilweise auf sehr unfeine Art. Ich pochte
auf meine Rechte als Absolvent und auf meine Arbeitsvereinbarung. Er
meinte daraufhin, solche Leute wie ich wären Anarchisten und
Nihilisten und würden früher oder später am Rande der
Gesellschaft landen. Das war starker Tobak! Ich blieb aber bei meiner
Position und beschwerte mich obendrein bei der Personalabteilung
über diese Behandlung.
Ein paar Tage später bekam ich Beschwerden in
der Herzgegend und abends im Bett kam es mir so vor, als ob
dieser böse Chef per Fernsteuerung bei mir die Herzstiche
verursacht. Ich war stark beunruhigt und dachte in diesem Moment, er
sei das personifizierte Böse, der Teufel. Am nächsten Tag
glaubte ich nur noch an Kreislaufprobleme und meinte, ich müsste
mehr Sport treiben. Beim folgenden Waldlauf hatte ich mich dann
erkältet und war für zwei Wochen krank. Die Herzstiche
ließen nach.
Ich hatte in den nächsten Monaten das Bedürfnis,
möglichst viel zu erleben. So war ich oft alleine in fremder
Umgebung unterwegs, ging stundenlang von einem Museum ins nächste.
Mir fehlte ein sinn- und maßvoller Freizeitrhythmus. Dass ich
schon lange keine Freundin
mehr hatte, bedrückte mich sowieso. So saß ich nach einer
Woche Urlaub mit anstrengenden Radtouren im Zug
zurück nach Berlin.
Eine verhängnisvolle
Begegnung
Während der Heimfahrt saß mir schräg gegenüber
eine hübsche blonde Frau in Begleitung ihrer beiden Töchter.
Es begann ein kleiner Flirt, nur mit den Augen. Schon nach kurzer Zeit
strömte eine große Wärme durch meinen Körper und
es war mir sehr unsicher in der Herzgegend. Sie schien meine Erregung
zu bemerken und war wohl auch selber aufgeregt. Endstation, umsteigen
in die S-Bahn - alle Leute stiegen aus dem Zug aus. Ich traute mich
nicht, sie anzusprechen, sah aber, wie sie weiter vorne mit den beiden
Mädchen in die S-Bahn einstieg. Da saß ich nun, mit einem
unsicheren Herzgefühl, einem Herz-Wärme-Schmerz
und dachte an die verpasste Chance. Schwarzgekleidete junge Leute
verunsicherten mich. Nein, ich muss ihr hinterher, mein Herz würde
sonst zerspringen! Bei jeder Station sprang ich in den nächsten
Waggon, bis ich SIE wieder entdeckte. Ich ging an ihr vorüber und
setzte mich an die Stirnseite, ca. 15 Meter von ihr entfernt. Sie
unterhielt sich mit Mitreisenden, bemerkte mich aber natürlich.
Nach einer Weile schaute sie mich öfter direkt an und
schüttelte den Kopf. Wie schade! Sie machte sich fertig,
auszusteigen. Ich stand in der Tür und wollte ihr mit einem Blick
„Ade“ sagen. Ihre Töchter bemerkten mich auch - eine schaute mich
beim Aussteigen ganz traurig an, als wollte sie sagen: „Wie schade,
dass wir dich nicht kennenlernen dürfen!“ Mein Herz rang mit
meinem Verstand und bevor die S-Bahn die Türen schließen
konnte, siegte das kranke Herz. Ich lief ihr wieder hinterher, die
Stufen hoch zur Straße. Ich sprach sie an und fragte, ob ich sie
ein wenig begleiten könnte. Ich durfte mitgehen und wir
verbrachten den ganzen Abend mit ein paar Gläsern trockenem
Weißwein und unterhielten uns. Sie erzählte mir vom Vater
der beiden Mädchen, der sich vor ein paar Jahren das Leben nahm.
Das berührte mich sehr. In dieser Nacht fuhr ich mit der letzten
S-Bahn nach Hause. Sozusagen als letzter Kunde.
Nach zwei weiteren Besuchen bei ihr und ihren beiden Mädchen war
ich ihr offenbar zuviel. Es kam ein Brief in dem stand: „Lebwohl!“. Ich
war verzweifelt, konnte im ersten Moment nur noch schreien. Ich konnte
nicht so einfach Lebewohl sagen. Es ging nicht. Die folgenden Tage war
ich wie gelähmt. Ich konnte an nichts anderes denken als an sie,
die Mädchen und diesen Herz-Wärme-Schmerz bei unserer
Begegnung. Ich muss irgendwie für sie bestimmt sein, dachte ich.
Phasen, wo es mir gut ging, wechselten ab mit Tagen, an denen ich
wieder völlig innerlich gelähmt war und nur grübeln
konnte. Ich schrieb Briefe, sie solle mir helfen, ich schaffe es
alleine nicht. Meine Gedanken kreisten nur um das eine, mein
Gefühl zu ihr. Meine Beschwerden in der Herzgegend interpretierte
ich als Liebesschmerzen. In Filmen und Radiosongs fand ich Bezüge zu
meiner Situation und es quälte einen. Meine Beziehung zur
Natur während Spaziergängen wurde immer emotionaler. Ich
bekam noch einen Brief, ich solle verstehen, es wäre besser so.
Aber ich war seelisch am Ende. Ich verstand es nicht mehr. Im Spiegel
sah ich nur mein versteinertes Gesicht – eine Maske! Nach Tagen totaler
gedanklicher Lähmung konnte ich nicht mehr. Ich ging zu ihr
hin. Sie sagte, sie habe doch schon einen Freund und da müsste ich
eben durch.
Seltsamerweise fühlte ich mich wie erlöst. Hatten die Kinder
also doch noch jemanden außer der Mutter. Ich war erleichtert,
aber müde und schwer getroffen.
Neue Erkenntnisse
Ich fragte mich, soll
es das nun gewesen sein? Was war das nur für ein Gefühl? Ein
Gefühl, wie für eine Freundin? Wenn ich sie vor mir sah,
erinnerte sie mich an mein ganzes
Leben. Nein, das mit diesem Herzschmerz musste mehr sein! Sie
hatte erwähnt, sie hätte Verwandte in dem Ort, aus dem meine
Mutter kommt. Ich tappte in die Falle. Sie muss irgendwie eine
Verwandte von mir sein, bildete ich mir ein. Ja, nur so ließ sich
dieses Gefühl erklären, was mich überwältigt hatte.
Sie musste eine Art Schwester von mir sein.
Ich hatte eine unbekannte Verwandte von mir getroffen, welche Fügung des
Schicksals! Ich war
überwältigt. Ich schrieb stundenlang an einem mehrere Seiten
langen Brief für meine „Schwester“. Ich legte alle meine
Gefühle und neuen Erkenntnisse dar und brachte zufällig
passende Beobachtungen
mit ins Spiel (z.B. „Die Kirche zum Vaterhaus schlägt gerade
zwölf.“) Ich verknüpfte meine Überlegungen mit
kirchlichen Dingen, weil ich von ihr wusste, dass ihr Vater Pfarrer
war. Ich legte zu dem Brief noch gesammelte bunte Herbstblätter
und andere Erkenntnisse
über
die Welt, von denen ich glaubte, sie unbedingt mitteilen zu
müssen, so z.B. über die Indianer und die biblischen
Sprüche Salomos. Ich steckte den dicken Packen persönlich in
ihren Briefkasten und fuhr verspätet am Sonnabend zu meinen
Eltern.
Am folgenden Sonntag aß ich kaum etwas. So sehr aufgeregt war ich
von meinen Erkenntnissen. Im Westfernsehen kam eine Serie namens „Oh
Gott, Herr Pfarrer“. Es wurde über Zölibat gesprochen. Ja,
das nahm genau Bezug auf meine „Erkenntnisse“. Beim Abschied versuchte
ich meine Mutter darauf hinzuweisen, aber sie verstand nicht. In der
S-Bahn wurde ich ohnmächtig. Ein Mann brachte mich auf den
Bahnsteig. Ich kaute dann etwas Brot, was ich mithatte und ließ
mir von der Aufsicht ein Glas Wasser geben. Brot und Wasser! Es wird
langsam biblisch,
dachte ich.
An der Station Leninallee kam ich nicht vorbei. Hier wohnte SIE. Mein
Herz zog mich zu ihr hin. Ich stieg aus. Vor mir lief eine
schwarzbekleidete junge Frau. Sie rannte plötzlich.
Merkwürdigerweise musste ich auch rennen, mein Herz hätte es
sonst nicht ausgehalten. (Diese Farb-Reaktionen beeinflussten mich
dann vier Tage später in stärkerem Maße.) Ich
klingelte bei IHR. Sie schaute nur vom Fenster oben herunter aber
machte nicht auf. Und ich kam mir vor wie ein Verrückter.
Der folgende Tag ist ein richtiger „schwarzer“ Montag für mich
gewesen. Ich war am Ende. Am Ende mit meinen Nerven. Doch dass ich
dringend ärztliche Hilfe brauchte, konnte ich mir nicht
vorstellen. Auf der Arbeit half ich einer Kollegin, Daten zu erfassen.
Nummer für Nummer flimmerte grün über den schwarzen
Bildschirm. Jede Nummer bedeutet ein Menschenschicksal, dachte ich. Bin ich etwa
Gott? Dieses Gleichnis
kam mir in den Sinn. Ich empfand die Kollegen und Kolleginnen auf
einmal ganz seltsam. Jeder repräsentierte einen bestimmten
Wesenszug, z.B. die Fürsorgliche, der Schlauberger, die Naive. Das
musste alles so sein und ich glaubte
plötzlich an die Vorhersehung. In der Nacht meinte ich,
mein Herz bliebe stehen. Ich hatte große
Angst. Es retteten mich ein paar Schluck Gotano-Wermut.
Am Dienstag hatte Marianne Geburtstag - eine nette Kollegin. Es gab wie
üblich eine große Frühstücksfete. Ich aß
belegte frische Brötchen und Kuchen, trank Früchtebowle und
Schnaps. Der Schnaps tat mir gut, aber ich war völlig
fertig. Das muss man
mir doch ansehen, dass ich nur noch ein Häufchen Elend bin, dachte
ich. Aber niemand nahm davon Notiz. Die Kollegen taten mir gut. Wie wir
so dasaßen, dachte ich, das ist der Geburtstag der heiligen
Maria. Als der Chef sich zu uns setzte, bekam er nur einen klapprigen
Stuhl. Der Teufel kriegt das, was er verdient, dachte ich. Es war
für mich ein Gottesdienst
am Dienstag.
Der Mittwoch hatte auch eine Bedeutung für mich. Jedenfalls
glaubte ich jetzt an so eine Art Vorherbestimmung. In der Mittagspause
fuhr ich zu IHR. Ich
steckte ihr einen kleinen Zettel in den Briefkasten mit einer
Entschuldigung für meinen überlangen Einbildungsbrief.
Trotzdem warnte ich sie: „Schwester, gib auf Dich acht! Nicht
vergessen, zu essen!“ Ich glaubte, ihr widerführe gerade
Ähnliches und sie könnte auch ohnmächtig werden. Auf
Arbeit blieb ich bis in den späten Abend am Computer. Ich brachte
aber so gut wie gar nichts zustande. Ich war völlig blockiert. Nur
ein selbstprogrammiertes Zufallszahlenbewegungsspiel
hielt mich
scheinbar aktiv. Mit einem Kollegen, der auch länger machte (wegen
mir?), kam ich von der Kantine zurück. Er sagte zu
irgendeinem
Sachverhalt: „Das ist auch nicht der wahre Jacob.“ Ich stand nicht mehr
über den Dingen. Dachte bei mir, damit meinte er bestimmt den
Generaldirektor (der hieß nämlich so), in Anspielung auf den
„bösen“ Bereichschef, der mich damals im Personalgespräch so
fertiggemacht hatte.
Ost und West
Am nächsten Tag saß ich in der Mittagspause im Arbeitszimmer
und fing
vor
Schwäche zu zittern an.
Vom gegenüberliegenden Spreeufer donnerte es von einer Baustelle
herüber. Ja, es ist Donnerstag,
begann ich zu begreifen, und dies war mein Durchhaltetest.
Meine Arbeiten am
Computer waren dringend. Aber ich war zu keiner Arbeit mehr fähig.
Ein gewisser Heinrich rief an, sie bräuchten die Listen sofort.
Heinrich, der Wagen bricht! Dieser Froschkönig-Ausspruch kam mir
nur in den Sinn. Ich bat einen Kollegen, mir zu helfen. Um 14 Uhr
machte ich Feierabend. Meinen Kollegen sagte ich, ich müsste mich
erst einmal erholen. (Eigentlich
wollten sie nachher mit mir zum Arzt
gehen. So kam ich ihnen zuvor.) Vorm Verlassen des Betriebes
bekam ich
noch die „BZ am Abend“ zu Gesicht und mein überfordertes
Gehirn spielte
mir den nächsten Streich.
Alle Artikel waren genau auf mich und meine Situation zugeschnitten.
Nur ich konnte die geheimen
Botschaften zwischen den Zeilen lesen. Man wollte mir damit
etwas sagen. Mir war plötzlich klar, dass ich unter geheimer
Beobachtung stand. Und es war eine Ost-West-Problematik, um die es sich
dabei drehte. Der Westen sollte irgendwie ausgetrickst werden.
Dieser Vorgang des
Bezüge-finden-auf-sich-selbst beim
Lesen von Zeitungen oder Erleben von Situationen findet auch bei
psychisch gesunden Menschen statt, doch diese würden nicht
ernsthaft in Erwägung ziehen, dass sie damit persönlich
angesprochen sind. Nur ein extrem überfordertes Gehirn kann nicht
mehr unterscheiden zwischen Informationen, die für einen selbst
bestimmt sind und anderen allgemeinen Umweltinformationen. Es lag auf
der Hand, dass die Auseinandersetzung mit dem westlichen
„Klassenfeind“, welche die DDR-Presse vor dem Mauerfall dominierte,
auch Einfluss auf meine Gedanken nahm.
Als ich den Betrieb verließ, trillerte ein kleiner Junge mit
einer Trillerpfeife. Jetzt geht es los, dachte ich. Werde
ich etwa gefilmt? Vor mir
ging eine Frau zur S-Bahn. Unter ihrem Rock hatte sie blutige Beine.
Mir sollte also schlecht werden! Das war bestimmt ein Hinweis, dass ich
nicht zur S-Bahn gehen durfte. Dort waren bestimmt die bösen
Westler, die dir ans Leben wollten. Ich wechselte die
Straßenseite. Jetzt ging vor mir langsam ein unsympathischer
älterer Mann mit schwarzer Lederjacke. Das war der Tod! Oder
zumindest ein Gleichnis dafür. Ich erschrak und ging in ein Haus
hinein, wartete bis der Kerl weg war. Was nun? Wie ging es nun weiter?
Ich folgte meinem Instinkt und ging auf verschlungenen Wegen durch
Treptower Park und Plänterwald in Richtung Wohnung. Alles was ich
unterwegs sah, hatte seine Bedeutung und einen Bezug auf mich. Die
Leute, die ich traf oder sah, waren nur meinetwegen da. Dies war ein
Test!
Ich machte Rast im Eierhäuschen an der Spree, trank Kaffee und
aß ein Stück Kuchen. Ich wurde beobachtet, eindeutig. Ein
Mann mit Pfeife schaute immer zu mir rüber. An der Theke hing ein
Schild: „Nur für V.I.P.“ - very important persons - nur für
ganz besondere Leute. Ich dachte, also ist das mit dir ein ganz
großes Ding, in das nur wenige Leute eingeweiht sind. Gut
gekleidete ältere Damen kamen herein. Das waren die von der
West-Seite! Haben sie mich gefunden! Ich zahlte und ging
heimwärts, aber nicht den direkten Weg am S-Bahnhof vorbei,
sondern in einer Spiralform bis zur Wohnung. Verkehrsschilder,
die Farben der Autos und
deren Bremslichter schienen mir den Weg zu weisen. Ich fragte
mich, was erwartet mich zu Hause? Worum ging es in diesem Test
eigentlich? Hatten sie eine Braut für mich? Zu Hause war alles
beim alten.
Abends fuhr ich noch einmal los - diesmal traute ich mich in die S-Bahn
- von der fixen Idee getrieben, zu einer bestimmten Adresse fahren zu
müssen. Vielleicht erfuhr ich dort mehr? Die Leute, die mir
begegneten, waren extra wegen mir
da, sagte mir mein Gefühl. Es waren die Guten, die passten auf
mich auf. Ich konnte hingehen, wo ich wollte, immer waren sie da und
beobachteten mich. Aber sie machten es ganz unauffällig und
professionell. Bestimmt extra ausgebildet, dachte ich. Als ich dann bei
der Adresse war, mich mit den Leuten unterhielt, war mir klar, dass es
das nicht sein konnte. Auf dem Weg zurück begegneten mir
Passanten, die gerade sagten: „Ein Affe weniger!“. Das war ganz klar
ein Hinweis auf mich und meinen erfolglosen Kontaktversuch. Oder
vielleicht ein Bezug auf meinen Betrieb und den bösen Chef. Hatten
sie ihn verhaftet? Am Bahnhof Jannowitzbrücke stieg ich wieder in
die S-Bahn. Ja-No-Witz! Ja, diese Geschichte ist kein Spaß, wurde
mir überdeutlich klar.
Mitten in der Nacht gegen 2 Uhr wurde ich wach. Was war nur mit meinem
Herz los? Solch ein Ziehen und Drücken! Gegenüber im
Hinterhof war ein Bürogebäude. Dort war oft abends Licht im
obersten Stock. Diese Schmerzen
musste jemand von außen indizieren, war mir plötzlich klar.
Dort hatten sie bestimmt eine neuartige
Strahlenkanone auf mich ausgerichtet. In der Wohnung konnte ich
nicht bleiben, dachte ich, sonst würde ich sterben. Ich wollte
sowieso am Morgen mit dem Zug zu den Eltern fahren. Dann fahre ich eben
jetzt schon los, mit dem Fahrrad, sagte ich mir. Ich ließ alles
stehen und liegen, nahm aber etwas zu Essen mit, denn ich hatte eine
lange Fahrt vor mir. Es war eine milde Nacht des 21. Oktober 1988. Die
Großstadt Berlin schlief.
Die Strecke, die ich fuhr, war ich größtenteils noch nie
zuvor gefahren. Ich vermied die großen Straßen. Dort
könnten ja die Westler sein! Das psychotische
Erleben setzte sich auf der ganzen Fahrt fort. Die rote
Leuchtreklame an den
Häusern tat mir gut und sagte mir: „Du bist auf dem richtigen
Weg!“ Durchfahrtsverbote und Einbahnstraßen störten mich
nicht. Im Gegenteil: Rot hieß: Gut so! Auch die
Straßennamen inspirierten mich und gaben mir Mut.
Schneeglöckchenstraße - wunderbar! Eine Straße war
nassgespritzt. Das haben sie extra für mich gemacht, wurde mir
klar. Sie wussten schon, dass ich hier entlangkomme. Ich schien den Test gut
zu bestehen. Also ab durch
die Pfützen! Weiter außerhalb begegnete ich ein paar
Straßenkehrern, die am frühen Morgen schon Laub fegten. Das
war ein Zeichen! Ich stieg ab und schob mein Fahrrad vorbei. Etwas
verschnaufen, etwas essen! Du bist gut in der Zeit, wollten sie mir
sagen.
Beinahe hätte ich mich in einer Kleingartensiedlung verfahren. Es
war dunkel. Vor mir nur Acker, rechts die Gärten. Aus einer
Schrebergartenlaube kam ein Mann. Er schwenkte eine Laterne und brummte
zu mir hin. Bestimmt hielt er mich für einen Einbrecher! Was nun?
Zum
Glück sah ich dann die Lichter der nächsten Stadt in den
Nachthimmel leuchten und wusste wieder die Richtung. In den
Neubauvierteln dieser Stadt war Festbeleuchtung auf den Straßen.
Das rötliche Licht der Natriumdampflampen machte mir Mut. Und es
war überall geflaggt mit DDR-Fahnen. Wegen mir, dachte ich. Wie
lieb! (In Wirklichkeit hingen
sie noch da vom 7. Oktober - dem
Nationalfeiertag.) Ich spürte, wie mich die Kräfte
verließen. Mein Proviant war alle und ich hatte noch eine ganze
Strecke zu fahren. In einer Parkanlage stand eine Engelsfigur. Das war
der Todesengel! Ja, du musst etwas essen! Durst hatte ich auch. Ich
fuhr zum Bahnhof, klopfte an der Rückseite des Fahrkartenschalters
und bat die Angestellte um etwas Essen. Sie sagte, ich solle warten.
Die Minuten vergingen. Nichts passierte. Warten? Warten bis ich schwarz
werde? Die Sache wurde mir unheimlich und ich fuhr wieder weiter.
Hoffentlich wird mir nicht schlecht, dachte ich. Ich hatte ja noch
über 20 km vor mir. Am Ortsausgang entdeckte ich plötzlich
einen Apfel auf der Straße. Es war ein prima roter Apfel. Den
müssen sie extra für mich hingelegt haben, dachte ich. Sie
wussten genau, wie weit meine Energiereserven reichen. Ich wischte den
Apfel ab. Er war gut. Der Apfel war Essen und Trinken in einem. Dies
war vielleicht eine dezente, aber erlaubte Hilfe aus dem Hintergrund.
Der Test musste unbedingt bestanden werden!
Auf der Landstraße lag eine tote schwarze Katze am
Straßenrand. Dies ist ein Test, sagte ich mir und das hat etwas
Symbolhaftes. Ich soll mich bestimmt um sie kümmern. Die Katze war
ganz steif. Ich schubste sie in den Straßengraben. Dort sollte
sie ihren Frieden haben! Es kamen mir schon viele Autos entgegen. Ihre
Lichter blendeten mich. Auch die Russenlaster brummten
vorbei und machten mir Mut
im Herzen. Es wurde langsam hell. Jetzt konnte ich eine Abkürzung
durch den Wald fahren. Hier kannte ich mich aus. Ich bekam ein ganz
wohliges, glückliches Gefühl im Körper. Gleich hatte ich
es geschafft! Es war Herbst. Überall goldige Blätter an den
Bäumen und ganz leichter Nebel. Wunderbar! Das war mein Wald! Auf
Schleichwegen fuhr ich zur Wohnung meiner Eltern. Es war halb acht.
Meine Mutter wollte gerade zur Arbeit gehen.
Ich hatte es geschafft! Ich war frei am Freitag.
Frei von der Arbeit und
frei von Berlin. War es das? Ein Test, ob ich es ohne fremde Hilfe
schaffe, nachts bis hierher zu fahren? Hatten Ost und
West auf mich gewettet?
Vom Ost-Radio-Nachrichtensprecher fühlte ich mich bestätigt,
die Westsprecher ärgerten sich und waren gehässig.
Draußen fuhren Autos vorbei mit roten Aufklebern. Sie brummten
laut. Das gab mir Kraft und Mut. Aber es schlichen auch Westautos
vorbei - die Gegenseite. Hatten sie mich gefunden oder suchten sie
mich? Ich bekam von meiner Mutter eine Beruhigungspille und schlief
danach den ganzen Tag. (Meine
Mutter war schon sehr beunruhigt wegen
meines merkwürdigen Verhaltens.) Als ich dann am
nächsten Tag
glaubte, noch vor dem Frühstück zu meiner Oma ins Altersheim
fahren zu müssen, wurde es ihr zu bunt. Sie rief - ohne dass ich
es merkte - den DRK-Rettungsdienst. Es waren ein guter und
ein böser
Krankenfahrer. Ich sah
es an ihren Augen. Das musste wohl zum Test gehören, dachte ich
und machte keinen Aufstand. Ich war doch nicht verrückt! Aber
demütigend war es schon, so einfach „abgeholt“ zu werden. So wurde
ich ins Krankenhaus gefahren.
Die Klinik
Der Chefarzt war ein Russe! Also doch eine Ost-West-Geschichte und sie
ging weiter! „Keine Angst!“ sagte er. Er untersuchte mich, stellte aber
keine Fragen, von meiner Mutter schon vorab informiert. (Kein Wort davon, dass ich vielleicht
eine akute Nervenüberforderung hatte, die bestimmte Symptome
verursacht, wie z.B. Beschwerden in der Herzgegend. Vielleicht
hätte ich verstanden, was los war. Von einer Nervenkrankheit
hätte er ja nicht gleich reden müssen.) Eine kleine
Schwester nahm mich mit und zeigte mir mein Bett in einem großen
Saal. Zum Mittag sollte ich zwei weiße Tabletten einnehmen (Haloperidol).
Ich wollte nicht - Tabletten schlucken, das fehlte noch,
ich war doch kerngesund - aber die Schwester ließ sich nicht
überlisten, als ich die Pillen unter der Zunge verstecken wollte.
Im Wachsaal
begrüßte mich ein merkwürdig impulsiver
junger Patient. Sein Name wäre Rainer, sagte er immer wieder zu
mir. Rainer - so hieß ein Fußballspieler, Rainer Ernst vom
BFC Dynamo. Ich schloss aus dieser Begrüßung, dass es eine
todernste Geschichte mit mir war - eben reiner Ernst. Weiterhin in
dieser Auffassung bestärkte mich ein anderer Patient. Schräg
gegenüber lag nämlich ein alter bärtiger zerzauster,
sehr unsympathischer Mann zitternd im Bett - halb liegend, halb im
Begriff aufzustehen. Das konnte nur das Gleichnis für den Tod
sein, der mich bedroht, dachte ich mir. Auslöser für diese
ganze Geschichte musste diese Begegnung mit dieser Frau sein. Das
bildete ich mir ein, denn ich hatte immer noch diese merkwürdigen
Herzbeschwerden. Wenn ich im Bett lag, konnte (oder durfte?) ich mich
nicht auf die linke Seite drehen wegen dieser Beschwerden. Ich lag an
der Wand. Dahinter war bestimmt wieder dieses Strahlengerät
auf
mich ausgerichtet, vermutete ich. Sie überwachten mich irgendwie!
Am nächsten Tag, dem Sonntag, kamen die Eltern zu Besuch. Ich
beschwerte mich lautstark und verletzt bei meiner Mutter, wie sie mich
nur hierher hat bringen lassen. Ob sie nicht die Sendung „Oh Gott, Herr
Pfarrer!“ gesehen hätte, versuchte ich sie in meine
Beobachtungen einzuweisen. Plötzlich wurde es ungemütlich.
Auf einmal liefen viele Leute im Vorraum der Station an uns vorbei. Ich
brach die Unterhaltung abrupt ab und verschwand in den Wachsaal.
Während der nächsten Tage bekam ich einen Krampf im Gesicht.
Der ganze Kopf wurde von einer geheimnisvollen Kraft nach rechts
gezogen und ich bekam den Mund gar nicht mehr richtig zu. Man
quälte mich offenbar. War das wieder ein Test? (Niemand hatte
mich über die eventuellen Nebenwirkungen von Haloperidol
aufgeklärt!) Ich erkundigte mich bei einer Schwester, die
zur
Ausbildung da war, was das wäre mit meinem Gesicht. „Vielleicht
kommt es vom Zähneputzen“, sagte sie grinsend. Zähne - Mund?
Deshalb! Ich hatte die letzten Tage zuviel über meine Erkenntnisse
geredet! Deshalb die Bestrafung
mit Gesichtslähmung! Ich
beschloss, nicht mehr über meine Erkenntnisse zu reden, mit
niemandem - das ist wohl die Testabmachung! Ich hätte den Osten
sonst enttäuscht.
Alles war sonderbar auf der Station. Sonderbare Leute,
die Patienten.
Das waren doch alles nur Schauspieler! Warum bekam nur ich Haloperidol?
Ich war überzeugt, die anderen würden nur simulieren - wegen
mir. Die Station sollte bestimmt so eine Art Schutzraum für mich
sein. Zu Hause bei meinen Eltern wäre es zu gefährlich wegen
den bösen Westlern, die nach mir suchten. Auch die morgendliche
Visite war sonderbar. Rote Stühle wurden im Kreis aufgestellt. Den
Patienten wurde gesagt, was sie machen sollen. Und die Psychologin der
Station kannte ich von meiner ehemaligen Schulklasse! Alles nur Schau
wegen mir! Sonderbar war auch, dass wir unsere persönlichen Sachen
in einer abschließbaren Box verstauen mussten, in einem schmalen
separaten Raum. In diesen Raum gingen immer die Schwestern der Station
und schlossen hinter sich ab. Überprüften sie etwa unsere
Sachen? (Ob sie die Sachen
überprüften, weiß ich nicht,
kann sein. Jedenfalls haben sie sich dort auch umgezogen.)
In der Nacht musste ich immer aufstehen, um meine Augen und
meinen Mund
zu befeuchten, weil sie trocken waren. Das kommt von den
Tabletten,
spürte ich. Dies war wohl wieder ein Ausdauertest.
Montags bei der Chefarzt-Visite schilderte ich ihm meine Beschwerden
und Nebenwirkungen, sagte sonst aber nichts. Er stellte mir keine
Fragen nach etwaigen Beobachtungen meinerseits. Ich dachte mir, das
muss so sein - der weise Marabu sagt nichts dazu. Die
Stationsschwester saß dabei und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich dachte mir: Nein, ich sage nichts, sonst werde ich wieder mit
Gesichtslähmung abgestraft.
Verlauf: In den ersten
Tagen des stationären Aufenthaltes standen
bei dem Pat. erhebliche Kontaktstörungen im Vordergrund. Er war
affektiv vermindert schwingungsfähig. Es bestand ein deutlicher
Antriebsmangel. Wahrnehmungsstörungen ließen sich nicht
nachweisen. Bedeutungs- und Beeinträchtigungserleben, wie es der
Pat. im Aufnahmegespräch schilderte (eine Frau habe ihn angesehen,
und er wusste sofort, dass er innig mit ihr verbunden sei), wurden von
dem Pat. negiert.
Ich kam in ein neues, kleineres Zimmer mit nur vier Betten und machte Arbeitstherapie
- Holz-Laubsägen. Eines Abends wurde ein neuer
Patient auf die Station gebracht. Er war an einem Bett festgeschnallt
und tobte. Ich bekam Angst. Wollte er mich etwa erstechen, er sah so
aus wie ein Strauchdieb. Sonderbar - nach ein paar Tagen sah er ganz
normal aus und war auch nicht mehr angeschnallt. Mein Bettnachbar war
ein großes fettes Ungetüm mit lauter Klappe. Ein anderer
wiederum lief immer nachts herum und rauchte. In einer Nacht, als ich
vom Befeuchten zurückkam, waren lauter Krümel und Dreck in
meinem Bett. Das ist Schikane,
dachte ich. Man wollte mich
provozieren! Aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte
nächtelang schlimme Alpträume.
(In der Art: Totenkopfgerippe
verfolgen mich durch die Gassen, um mich mit Säure zu
übergießen.) Ab diesem Zeitpunkt wollte ich unbedingt raus
aus der Klinik.
Ich kam übers Wochenende nach Hause. Aber es ging mir nicht gut.
Ich lag ängstlich auf dem Sofa und überall wo ich hinsah,
fand ich Bezüge zu mir. Auch das Bild mit dem jungen Mann mit
roter Mütze, was im Klinikflur hing, hing in Miniaturform auch zu
Hause. Sollte ich das sein? Alles machte mir Angst,
selbst die Fliege
an der Wand. Bei der Montagsvisite zitterte ich am ganzen Leib. Ich
sagte, ich hätte Angst und die ganze Welt nähme Bezug auf
mich. Haloperidol
wurde abgesetzt. Dafür bekam ich Sonapax.
Sonapax = Melleretten;
Rückblickend betrachtet komme ich nicht
umhin, bei aller Vorsicht, zu sagen: In meinen Fall war die
Haloperidolbehandlung so etwas wie seelische Folter.
Meine Träume wurden besser. In der Arbeitstherapie formte ich
jetzt Gegenstände aus Ton, was mir aber sehr schwergefallen ist,
zumal ich mich von den
anderen Teilnehmern beobachtet fühlte. Auf Station fragte mich
ein Patient, weshalb ich eigentlich dort wäre. Wegen einer Frau,
sagte ich teilweise wahrheitsgemäß. Der Ost-West-Test schien
mir schon abgeschlossen. Ich wollte auch nicht darüber reden. Es
hätte für Uneingeweihte unglaubwürdig geklungen. Ich war
doch kein Verrückter! Er wäre wegen fünf Frauen
hier,
meinte der Patient. Und ich sollte den Ärzten ja nicht zuviel
erzählen, sonst behielten sie mich länger da. Oh, dachte ich,
wusste er etwas von meinem Test? Nein, ich sage nichts, dachte ich mir.
Ich wollte so schnell wie möglich wieder ein normales Leben
führen, bloß raus aus der Klinik!
Ich hatte wohl noch Beschwerden am Herzen und schilderte das dem
Chefarzt in der Montagsvisite. Sehen Sie, das ist ihre Krankheit,
sagte er, früher oder später hätte ich das bekommen und
es ist nicht ausgeschlossen, dass ich es irgendwann noch einmal
bekäme. Von
wegen Krankheit, dachte ich, ich war doch kerngesund! (Kein Wort vom Arzt
über Nervenschwächung und ihre Symptome
und Sinnestäuschungen. In der Tat glaubte ich, die Visite
wäre nur dafür da, dass die anderen „Patienten“ über
mein Verhalten auf der Station berichteten.) Ich dachte mir das
so: Man
erklärt mich für krank, um mich in dieser Klinik vor der
anderen Seite, den Westlern, zu schützen. Früher oder
später hätte ich das bekommen? Das lag doch an der Begegnung
mit dieser Frau, dieser Herzschmerz, dachte ich. Oder war es etwa
Vorsehung? Und es könnte noch mal passieren? Darüber war ich
stark beunruhigt. Ich wurde jedenfalls zum Tagespatienten
befördert, d.h. ich durfte jeden Abend wieder nach Hause gehen, um
dort zu übernachten.
Wir
behandelten den Pat. zunächst mit Haloperidol. Es kam jedoch
zu keiner eindeutigen Änderung des psychischen Zustandes, so
dass wir ihn auf Sonapax umstellten. Unter dieser Therapie wirkte der
Pat. insgesamt lockerer. Die Kontaktfähigkeit war deutlich
besser, der Antrieb lag im Normbereich. Der arbeitstherapeutische
Einsatz verlief ohne Komplikationen. Wir konnten den Pat. als
Tagesklinikpatienten führen.
In der Arbeitstherapie, beim Abzeichnen eines Musters, fühlte ich
mich wieder beobachtet. Das Radio war an - Rias 2. Das war doch ein
Westsender! Gehörte das zum Test? Ich zog meine bunten Linien auf
Papier und merkte,
wie die Musik oder der Sprecher auf meine
Zeichenbewegungen reagierten. Ich schaute zur Decke. Hier musste
irgendwo eine Kamera installiert sein, die live nach Berlin sendet! Der
Test geht also weiter, dachte ich mir.
Bei einem Teil des Musters konnte man bei gutem Willen
einen
Schlüssel erkennen. Und es war spiegelbildlich. Das war Ost und
West und es ging um Schlüsseltechnologien, vermutete ich.
Irgendwie kam mir dabei auch Professor Manfred von Ardenne in den Sinn,
der in Dresden sein Forschungsinstitut hatte. Es ging bestimmt um eine
revolutionierende Entdeckung für den Osten. Man ließ den
Westen nur scheinbar am Test teilnehmen. Er sollte bestimmt
vorgeführt werden, damit er sich schwarz ärgert. Und ich
spielte eine Art Hauptrolle darin, weil ich diese schicksalhafte
Begegnung mit dieser Frau hatte.
An einem Tag kam ich morgens mit dem Bus zur Klinik. Es waren viele
sowjetische Militärs und ihre Frauen im Bus. Oh, dachte ich, das
hatten die „Freunde“ aber gut organisiert. Den Westlern wurde keine
Chance gegeben, sich an mich heranzumachen. Eine Bahnschranke war zu.
Der Verkehr staute sich. Das ist ein Zeichen für mich von der
Reichsbahn, war mir spontan klar. Ich sollte eine Station früher
aussteigen. Ich mischte mich unter die Leute. So fand mich kein amerikanischer
Satellit!
Bei allem, was mir merkwürdig vorkam, glaubte ich an eine besondere
Bedeutung. Das Klinikgelände mit seinen alten
Häusern und Bäumen kam mir vor wie eine Art heilige
Beschwörungsstätte früherer Jahrtausende. Ich glaubte,
in der Mittagspause bestimmte Strecken laufen zu müssen. Es war
bestimmt von oben gesehen ein besonderes Orakel, welches die russischen
Satelliten mit aufzeichneten. Dabei entdeckte ich, dass auf dem
angrenzenden verfallenen jüdischen Friedhof alle Grabsteine in
Ost-West-Richtung ausgerichtet waren. Wussten etwa die alten Juden im
vorigen Jahrhundert schon von dem bevorstehenden Ost-West-Test? Das
beeindruckte mich sehr. Als ich zum Himmel schaute, kam plötzlich
ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Das war ein Zeichen
für mich!
Von Petrus? Sogar das Wetter machte mit!
In der Arbeitstherapie zeichnete ich weiter das Muster ab und gab
darauf acht, nicht konform mit der Rias-2-Musik zu zeichnen. Es war
Freitagnachmittag und ich ging zur Bus-Haltestelle, um nach Hause zu
fahren. Ein amerikanischer Schlitten fuhr von weitem vorbei. Ha! So ein
Auto gab es auch in der TV-Serie „Ein Colt für alle Fälle“.
Sie drohten, mich zu erschießen! Ich sollte mich kooperativ
zeigen mit dem Westen. Es kamen mir viele Autos entgegen, auch ein
Westauto mit dem Kennzeichen „B-DM…“ Soso! BDM! Bund Deutscher
Mädel – da sieht man, wessen Geistes Kind der Westen ist! Das
Auto gab Lichtzeichen. Sie wollten in Kontakt mit mir treten. Von
wegen! Mit diesen Leuten gebe ich mich nicht ab. Ich ging ohne mit der
Wimper zu zucken vorbei. Sollen sie sich ärgern! Ich bin aus dem
Osten – das Schicksal wollte es nun mal so. Die Guten sollen gewinnen
und nicht die Bösen. Es war Stau – Berufsverkehr. In Richtung der
Stadt bewegte sich nichts. Ich ging zu Fuß zum Marktplatz und
mein weinrotes Beutelchen flatterte im Wind. Die vielen roten
Autorücklichter machten mir Mut. Das war bestimmt für mich
organisiert! Seht her, hier gehe ich, ich lebe und mache weiter! Die
Westler hatten keine Chance. Sie wurden im Stau à la Ost
festgehalten.
Zu Hause hatte ich - verursacht durch meine Überempfindlichkeit
der Wahrnehmung - schon seit längerem gemerkt, dass mich
die
Fernsehmoderatoren direkt ansahen und auf mein Verhalten eingingen.
Konnten sie mich wirklich sehen? Am Sonntagabend kam im Fernsehen die
Knoff-hoff-Show. Der Moderator zeigte einen Goldschmuck und meinte,
dieses „Goldene Vlies“ hätte etwas Besonderes an sich. Hatte der
Westen also auch das Orakel gefunden oder wollte er bloß
blöffen? Natürlich blöfften sie. Sie meinten in
Wirklichkeit meine Person! Über dem Esstisch hing bei uns ein
golden aussehender Messingteller. Sie nahmen Bezug auf mich. Ich nahm
den Teller von der Wand, zeigte ihn dem Moderator und drehte ihn umher.
Schaut her! Hier ist das Goldene Vlies, von dem ihr quacksalbert.
Ich hatte mir schon eine Erklärung zurechtgelegt, warum mich die
Fernsehleute sehen konnten. Irgendwie mussten testeingeweihte Personen
uns Spezialfernseher angedreht haben. Diese waren mit Minikameras
ausgerüstet und müssen wohl immer zum jeweilig
eingestellten Sender zurückgesendet haben, womöglich
über Satellit. Ein paar außenstehende Bildpunkte zeigten
offenbar ihre Position im Glaskolben. Raffiniert gemacht, dachte ich
mir. Aber konnten sie mich auch beobachten, wenn der Fernseher aus war?
Vorsichtshalber gab ich immer darauf acht, was ich sagte oder tat,
wenn ich im Fernseherblickwinkel war. Das war anstrengend! ... |

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